Offener Brief an Justizministerin Katarina Barley

Reaktion auf den offenen Brief von Katarina Barley an Herrn Zuckerberg!

Sehr geehrte Frau Barley,
mit Interesse habe ich Ihren offenen Brief an Herrn Zuckerberg gelesen. Ihre Forderungen sind prinzipiell logisch und nachvollziehbar, gehen mir aber nicht weit genug:

Bei den Gründern von Facebook, Google und anderen handelt es sich um eine neue Generation von Managern, die ein Geschäftsmodell ins Leben gerufen haben, das nach dem Prinzip der Leimrute funktioniert: Mit großem Aufwand werden Software-Produkte und digitale Dienstleistungen entwickelt, deren Nutzen für die Menschen so überwältigend ist, dass sich jeder nur zu gern ihrer bedient, zumal sie vorgeben kostenlos zu sein. Aber: Sämtliche dieser Angebote führen ein Doppelleben. Sie sind nur dazu gedacht, Menschen zu binden, zu durchleuchten und deren digitale Ebenbilder bestmöglich zu erfassen und zu verwerten. Dieser Prozess dauert an, und wenn Sie bei den genannten Gründern – deren Vorgehensweisen sich mittlerweile auch traditionelle Unternehmen wie Apple und Microsoft nur zu gerne angeschlossen haben – ethische oder moralische Vorbehalte erwarten, bei denen Appelle Wirkung zeigen, werden Sie sicher enttäuscht werden.

Die Kostenlos-Begehrlichkeitsfalle schnappt sich übrigens nicht nur Normalbürger, die Sie gerne geschützt wissen, sondern seit vielen Jahren auch – großenteils sehr renommierte – Unternehmen aller Couleur. Mit tollen Analysetools für Webpräsenzen und super-simpler Verwaltung digitaler Werbeflächen wurde das World Wide Web binnen weniger Jahre komplett umgekrempelt. Allen voran Google und Facebook haben es geschafft, die für uns alle nutzbringende und faszinierende Technologie der Hyper-Verlinkung mit Tracking-Schadcode derart zu verwanzen, dass aus dem WWW das weltgrößte Spionage-Netzwerk entstanden ist. Brave Vasallen sind Webserver-Betreiber, die den schnellen und einfachen Werbeumsatz vor Augen haben – allen voran die Medienhäuser, die die Netzkonkurrenz für ihre Papierprodukte fürchten. Sie verlieren ihre Kunden an die Datensammler und bemerken es offensichtlich nicht einmal, oder es ist ihnen schlicht egal.

Genau das Tracking aber ist es, das seitens der DSGVO nicht geregelt und politisch überhaupt nicht wahrgenommen wird. Alle Bemühungen um den Datenschutz orientieren sich am althergebrachten Modell von Kunden und Dienstleistern. Wie aber erlange ich die Kontrolle über Daten, die einfach ausgespäht werden, wenn ich durch das Internet surfe? Ich bin kein Facebook-Nutzer; der Konzern hat dennoch ein Schattenprofil von mir – erlangt durch Tracking der von mir besuchten Webseiten, aber auch dank unüberlegt handelnder Freunde und Familienmitglieder, die mich in ihrem Smartphone-Adressbuch führen und WhatsApp nutzen. (Wir erinnern uns: Wenn man diese App verwenden möchte, verlangt sie das Hochladen aller auf dem Handy gespeicherten Kontaktdaten auf die Server des Anbieters). Und das sind nur zwei Beispiele.

Es wird Zeit, dass wir nicht länger lapidar über Eigentum oder Schutz persönlicher Daten sprechen. In der digitalisierten Online-Welt sind wir unsere Daten! Sie repräsentieren uns und reifen zunehmend von einem Alter Ego zu unserem Ego. Beziehungen und Geschäfte setzen eine physische Präsenz immer weniger voraus. Und diese Entwicklung schreitet fort und ist nicht mehr aufzuhalten.

Datensammelnde Unternehmen erhalten und speichern ein dreidimensionales Bild von uns, in dem nicht nur der Status Quo, sondern auch die zeitliche Entwicklung unseres Lebens erfasst sind. Diese Firmen haben bereits vor Jahren erkannt, dass der „körperliche Mensch“ in Zukunft an Bedeutung verlieren wird. Beziehungen, Geschäfte, Strafverfolgung geschehen online, in der digitalen Welt. Das physische Individuum existiert nur noch zu Hause, im Privatleben und (auch nicht mehr immer) am Arbeitsplatz.

Wer im Besitz unserer Datenhologramme ist, besitzt die Macht

Das bedeutet umgekehrt: Wer unser „Datenhologramm“ gespeichert hat, besitzt zunehmend die Macht über uns. Derjenige verwaltet unsere digitale Existenz, unser Online-Selbst. Und es gibt sogar schon Chatbot-Systeme, die uns weiterbestehen lassen, selbst wenn wir diese Welt infolge unseres Todes bereits verlassen haben. Auf der Basis gespeicherter Profile aus dem Umfeld sozialer Netzwerke simulieren diese Automaten unsere Persönlichkeit und „sprechen“ in unserem Namen zu den Lebenden.

Die Politik lässt es seit Jahren zu, dass die Datenkonzerne mit unseren digitalen Ebenbildern verfahren können, wie es ihnen beliebt. Es ist weder geregelt, was gesammelt und gespeichert werden darf, noch wo es gespeichert wird und wie Revisionssicherheit garantiert werden kann. Letztere, um sicherzustellen, dass die Vergangenheit eines Menschen rechtzeitig in Vergessenheit gerät, um stets die gegenwärtige Person abzubilden, aber auch, dass die Daten nicht nachträglich manipuliert werden können.

Wir sind in einer digitalen Geiselhaft

Wir sind auf dem direkten Weg in die digitale Geiselhaft, denn wenn unsere elektronischen Präsenzen maßgeblich unsere Persönlichkeit und Geschäftsfähigkeit in der Öffentlichkeit abbilden, dann befinden wir uns technisch und rechtlich dort, wo diese Präsenzen gerade sind. Ist das eine Server-Festplatte in Asien, erfüllt sich dort das Schicksal unseres digitalen Egos: Es kann missbraucht und manipuliert werden, da kein Gesetz dieser Welt uns vor so etwas schützt.

Liebe Frau Barley, in Zeiten wo sogar Strafverfolgungsbehörden mehr und mehr zu Kunden von Datenkonzernen werden, ist es keine Frage mehr des Ob, sondern nur noch des Wann, bis auch manipulierte Daten den Weg ins Rechtssystem finden. Dann waren Sie auf einmal an Tatorten von Verbrechen oder werden verbotener Ideologien verdächtigt, weil Ihr Internet-Profil so etwas „beweist“. Und auf einmal müssen Sie die Belege für Ihre Unschuld liefern.

Diese ganze Macht über das neue, zweite „Leben“ der Menschen jetzt und in Zukunft haben ein paar wenige Konzerne, die sich bislang jeder Kontrolle entziehen (können), weil digitale Existenzen rechtlich nicht geregelt sind. Der traditionelle Begriff des Datenschutzes erfasst unsere neue Welt nicht, egal wie sehr man ihn auch anpassen möchte. Es bedarf einer völlig neuen Definition von Menschsein und Menschenrechten. Es ist höchste Zeit.

Mit freundlichen Grüßen

Karsten Schramm
(Aufsichtsratsvorsitzender des Münchner Start-ups Brabbler und Erfinder des Mailsystems GMX)
https://klartext.unverschluesselt.net/karsten_schramm/

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Ein Kommentar

  1. Super! Einer der wenigen Beiträge zum Thema Datenschutz, der den philosophischen Kern des Problems tatsächlich erkennt und benennt. Das Internet ist eine Zwischen-Realität, ein Mikro-Kosmos, der trotz massiver sozialer Interaktionen nicht annähernd die gesamtgesellschaftlichen Zusammenhänge echter Menschen repräsentiert (oder repräsentieren sollte). Durch die zunehmende Festlegung von Personen auf starre Datenhologramme, die erzwungende Verknüpfung mit trackbaren Endgeräten und die Überwachung einzelnen Nutzerverhaltens wird zunehmend die Grenze zwischen Gedanken, freier Meinungsäußerung und privater Kommunikation auf der einen Seite und öffentlichem, potentiell strafbaren HANDELN auf der anderen Seite verwischt. Digitale Aktionen werden analog zu reellem Handeln bewertet und Menschen werden auf ein bestimmtes So-Sein, das sich aus digitalen Spuren vermeintlich ableiten lässt, festgenagelt. Die Auffassung vom Menschen ändert sich damit und durch Konformismus ändert sich auch das menschliche Verhalten in seiner Gesamtheit. Wie im Beitrag erwähnt, besteht darüber hinaus immer auch die Gefahr einer manipulativen „Umformung“ der Pseudo-Person, die sich in den scheibar faktischen Daten wiederfindet. Die Kontrolle über diese Pseudodaten haben aber einige wenige Großkonzerne. Technologischer Fortschritt ist nur sinnvoll und gesellschaftsdienlich, solange sein ideologisches Fundament einem pluralistischen und freien Menschenbild entspricht. Das ist längst nicht mehr der Fall.

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