Wie bemisst sich der Wert eines Menschen? Diese Frage beantwortet China bis zum Jahr 2020 für jeden seiner Bürger. Jedenfalls, wenn es nach den Plänen der Regierung geht, denn bis dahin will die Volksrepublik ihre 1,4 Milliarden Einwohner per Score kategorisieren – gute Taten ins Töpfchen, schlechte ins Kröpfchen. Schon heute wird das Bewertungssystem in rund einem Dutzend Regionen des Landes getestet. Dieses Sozialkredit-Punktesystem (social credit system) berechnet mit Hilfe von Algorithmen den Wert eines jeden Menschen.
Jeder Bürger fängt bei 1000 Punkten an. Und Punkterhöhungen gibt es für pünktliches Bezahlen von Rechnungen, gesetzestreues Verhalten, wenn Kinder ihre Eltern unterstützen, Spendenbereitschaft, gesunde Ernährung oder Freiwilligendienste. Die beste Bewertung – AAA – entspricht 1.300 Punkten und steht für das höchste Maß an Angepasstheit.
Aber der Punktestand kann auch schnell in den Keller rutschen: Wenn Bürger beispielsweise mit dem Mercedes zur Arbeit fahren (großes Auto, schlecht für die Umwelt), bei Rot über die Ampel gehen (Gefährdung im öffentlichen Raum), zu viele Videospiele konsumieren (kein soziales Engagement) oder Freunde mit schlechter Bewertung kontaktieren, dann sinkt der Score. Wenn er unter 600 Punkte fällt, landet der Überwachte in der schlechtesten Kategorie: D.
Score-Werte werden übrigens auch an Unternehmen und Institutionen vergeben.
Saftige Sanktionen
Die Einordnung in eine schlechte Kategorie verheißt Bürgern saftige Sanktionen, die die Lebensqualität massiv einschränken. Dieser Teil der Bevölkerung erhält für seine Kinder beispielsweise keinen Platz an beliebten Schulen, darf bevorzugte Wohnungen nicht kaufen, kann kein Flugzeug mehr benutzen oder bekommt keinen Kredit für die Hausrenovierung.
Über eine Smartphone-App kann sich jeder über seinen Punktestand informieren. Das Prekäre: Auch Banken, Arbeitgeber und Vermieter können die Bewertungen einsehen.
Warum die Bürger das akzeptieren? Die Regierung verkauft dieses Bewertungssystem als Mittel gegen Kriminalität und Korruption. Außerdem bekommen AAA–Bürger Vergünstigungen, wie beispielsweise Ermäßigungen bei den Heiz- oder Wasserkosten.
Woher die Daten kommen
Als Datenquellen dienen Kranken- und Gerichtsakten, Online-Daten und Beiträge aus sozialen Netzwerken. Die chinesische Regierung arbeitet außerdem mit den weltgrößten E-Commerce-Händlern des Landes zusammen. Dazu gehören die drei Internetkonzerne Baidu, Alibaba und Tencent, die unter dem Akronym BAT bekannt sind. Selbst Apple hat sich jüngst der chinesischen Regierung unterworfen. Ende Februar wurde der Bereich der iCloud, der mit Apple IDs chinesischer Nutzer verknüpft ist, von einer staatlich kontrollierten Internet-Firma übernommen. Dem Zugriff der Behörden im Reich der Mitte steht nichts mehr im Wege.
Aber auch das Leben auf der Straße wird ständig beobachtet und bewertet. Bei der Entwicklung und beim Einsatz von Gesichtserkennung ist China weltweit führend. Es gibt nahezu flächendeckend Videokameras.
Alle Datenbanken werden zusammengeführt, um den Gesamt-Score eines Menschen zu ermitteln und seine Handlungen vorherzusagen.
Das Ende der Freiheit mit dem Sozialkredit-Punktesystem
Ein solches Überwachungssystem bleibt in einer Gesellschaft nicht ohne Folgen. Natürlich bemüht sich in solch einer Gemeinschaft jeder um ein möglichst positives Selbstbild beziehungsweise einen hohen Score. Das verspricht schließlich ein besseres Leben und selbstverständlich führt das in Familien, unter Freunden und Kollegen zur Selbst- und Fremdkontrolle – es wird zum Selbstläufer.
Wie wir aus der Geschichte wissen (Ich denke dabei an die Nazi-Diktatur und das SED Regime), ist die zunehmende Bewertung von Menschen immer eine Begleiterscheinung totalitärer Entwicklungen gewesen. Diese riesigen Datenmengen, die mit Big-Data-Algorithmen analysiert werden können, beflügeln aber nicht nur autokratische Systeme.
Der Staat will in vielen Ländern möglichst nah an den Bürger rücken. In Amerika entsteht ein riesiges Bürgerregister, das von der Trump-Regierung initiiert wurde. Dubai war schon immer ein Polizeistaat und auch in Indien sind bereits mehr als eine Milliarde Menschen biometrisch erfasst.
Schleichend zum Überwachungsstaat
Und bei uns in Deutschland? Ständig werden unsere Daten gesammelt und bewertet. Die Schufa bestimmt unsere Kreditwürdigkeit, Datenkraken verfolgen unsere Internet-Wege, Versicherungen locken uns mit günstigen Tarifen, damit wir unsere Gesundheitsdaten herausrücken und unsere smarten Geräte folgen uns permanent auf Schritt und Tritt.
Leben wir – gekoppelt mit der permanenten Aufrüstung unseres Sicherheitsapparates (Ich denke beispielsweise an Vorratsdatenspeicherung, Staatstrojaner oder Ausbau der Videoüberwachung) – nicht auch schon in einem Überwachungsstaat?
Wir brauchen dringend und schnellstmöglich eine Debatte über Werte in unserer digitalisierten Welt. Algorithmen haben keine Moral und dürfen nicht bestimmen, was wir wert sind.
Aktualisierung am 6. Oktober 2018: Einen anderer Blick auf China hat Autor Marcus Hernig, der seit 1992 in China unterwegs ist, im folgendem Republik-Artikel aufgezeigt: Errichtet China eine Big-Data-Diktatur? Nein.
Danke Marcel Waldvogel für diesen Hinweis auf Twitter!
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