- Daten aus sozialen Netzen „bereichern“ Score-Werte
- Hamburger Start-up holt zur Bonitätsprüfung bis zu 20.000 Informationen ein
- Kontrollverlust, Anpassung und Manipulation sind die Folgen
Spätestens wenn Sie ein Bankkonto eröffnen oder einen Handyvertrag abschließen, kommt Scoring (zu Deutsch Punktebewertung) ins Spiel. Der Vertragshändler holt von der Auskunftei Schufa oder CRIF Bürgel Informationen von Ihnen, um Ihre Bonität zu prüfen. Bestehende Handy- oder Leasingverträge, Einkommenshöhe, unbezahlte Rechnungen oder Insolvenzen, aber auch persönliche Daten wie Alter, Familienstand, Kinderzahl oder Wohnsituation fließen in eine statistisch-mathematische Formel und errechnen Ihren Score. Die Auskunfteien schauen zurück und bewerten das Zahlungsverhalten aus der Vergangenheit.
SocialScoring: Daten aus sozialen Netzen und Metadaten werden dem Profil zugeordnet
Auf solchen Scoring-Verfahren beruht auch das Sozialkreditsystem der Chinesen. Dort kommen aber unter anderem noch Daten aus sozialen Netzwerken oder von öffentlichen Überwachungskameras hinzu. Es steht nicht (nur) die Finanzkraft im Fokus, sondern beispielsweise Freundschaften, Verhalten im öffentlichen und privaten Raum, soziales Engagement oder Medienverhalten.
Das Online-Verhalten, das aus sozialen Netzen und dem Surfverhalten gefischt wird, ist eine ergiebige Datenquelle. Diese digitalen Aktivitäten eignen sich hervorragend, um fast alles über eine Person zu erfahren: Wann ist diese online, mit wem ist sie befreundet, welche Beiträge gefallen, welche Käufe werden getätigt, welche Fotos stehen im Netz, wozu schreibt sie Kommentare, wie ist das Surfverhalten? Die Metadaten vervollständigen das Bild: Wann wird an wen geschrieben? Um welche Uhrzeit erfolgen die Online-Aktivitäten? Welche IP-Adressen und welche Standortdaten übermittelt das Endgerät? Widersprüche können dabei ebenfalls aufgedeckt werden. Beispielsweise, wenn ein Mensch behauptet, er lebe in den USA, die Standortdaten zeigen aber, dass er sich permanent in Deutschland aufhält ….
Alles ganz einfach aus dem Netz zu holen.
Netzschnüffler sehen einen lukrativen Markt
Aber nicht nur die Chinesen ziehen Daten aus sozialen Netzwerken. Das in Hamburg ansässige Start-up Kreditech vergibt Online-Kredite ohne Schufa-Auskunft. Kreditech ermittelt die Bonität durch einen hauseigenen Algorithmus, der alles Auffindbare aus dem Internet eines Antragstellers erfasst. Bis zu 20.000 Einzelinformationen recherchiert das Unternehmen pro Antrag. Es sucht nach Spuren auf Facebook, Amazon, Twitter, eBay oder Instagram. Auch der mögliche Vertipper und die Erfassung des Gerätes, von welchem das Formular ausgefüllt wird, fließen in die Bewertung ein. Kreditech ist beispielsweise in Russland, Polen, Spanien, Peru oder Indien aktiv. Kurzzeitkredite werden zu extrem hohen Zinsen vergeben. In Deutschland darf Kreditech seinen Geschäften nicht nachgehen. Der Grund: Wucherzinsen und Datenschutzbestimmungen.
Die Gefahren für Individuum und die Gesellschaft
Daten sind erst einmal neutral – weder gut noch böse. Sie lassen sich in eine sinnvolle oder gefährliche Richtung interpretieren. Und genau hier liegt die Gefahr. Es besteht das Risiko, dass der Algorithmus ein falsches Bild liefert. Der Score, den ein Bürger erhält, kann entscheidende Auswirkungen auf seinen beruflichen Weg und Alltag haben. Wir wissen nicht, woher die Datenmengen stammen. Wir haben keine Möglichkeit der Einflussnahme oder Korrektur unserer Daten und erleben den totalen Kontrollverlust.
Wen eine Person weiß, dass sie ständig überwacht wird, dann verhält sich auch anders – natürlich angepasster. Sie wird sich sehr genau überlegen, ob sie das Krankheitsbild ihrer Mutter recherchiert, denn es wird dem eigenen Profil zugeordnet. Und ob der Arbeitgeber wissen sollte, dass diese Person sich in der Kommune politisch engagiert? Wir werden uns immer mehr sozial konform verhalten und nur noch das tun, was uns gute Werte einbringt.
Und versteht erst ein Unternehmen oder eine Regierung unsere Begehrlichkeiten, werden wir verletzlich und manipulierbar. Das geht noch mal über die Werbung hinaus, die wir heute kennen, wenn diese versucht, unsere Wünsche zu wecken. Wer das schon gut zu nutzen wusste: Donald Trump. Sein Wahlkampf-Team holte 2016 das umstrittene Unternehmen Cambridge Analytica ins Boot. Trump und sein Team wussten die sozialen Medien sehr erfolgreich einzusetzen. Und die AfD ist die Partei in Deutschland, die Facebook innerhalb unserer Parteienlandschaft am erfolgreichsten nutzt. Die AfDler wollen am liebsten die klassischen Medien gar nicht mehr bedienen, sondern direkt mit ihren Fans kommunizieren – ohne Kritik und Streuverlust.
Die Empörung über das Socialcredit-System in China ist groß, aber sind wir so weit davon entfernt? Datensammeln, bewerten und weitergeben ist aus unserer digitalen Welt nicht mehr wegzudenken. Und wir schauen hilflos dem Treiben zu. Für Unternehmen und Regierungen ist das Scoring eine große Verführung, die dringend gesetzlich geregelt werden muss, sonst werden wir mehr und mehr brave Untertanen eines Überwachungsstaates. Eine Gefahr für unsere Demokratie.
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